Natsume Soseki (1867–1916) begeisterte sich früh für klassische chinesische Literatur und Haiku-Dichtung. Er studierte englische Literatur, lebte zwei Jahre in London und unterrichtete schließlich an der Kaiserlichen Universität Tokio. Ab 1907 widmete er sich ganz dem Schreiben. Seine Romane gelten als die ersten modernen Werke in japanischer Sprache und der Manesse Verlag wirbt damit, dass „Kokoro“, was so viel wie Gefühl oder Herz bedeutet, Japans meistgelesener Roman ist.
Der Erzähler in den ersten beiden Teilen des Buches ist ein Student, der einen älteren Mann beim Baden am Meer kennen lernt. Der Jüngere wird auf den Älteren aufmerksam, weil dieser offenbar mühelosen Umgang mit einem Europäer pflegt, der sich ebenfalls am Strand aufhält. Er freundet sich mit dem älteren und hochgebildeten, doch offensichtlich unter einem tragischen Schulderlebnis leidenden Mann an, den er „Sensei“ nennt – in Japan eine respektvolle Anrede für einen an Alter und Erfahrung überlegenen Mann von unbezweifelbarer geistiger Autorität. Nach Tokyo zurückgekehrt, sucht der Student den Sensei, der vermögend ist und deshalb keiner Erwerbsarbeit nachgehen muss, öfter zu Hause auf. Doch dieser hält bei aller Freundlichkeit Distanz zu ihm, ähnlich behandelt er seine Frau, die anscheinend mit seinem Geheimnis zu tun hat.
„Die Erinnerung daran, dass man einst vor einem anderen niedergekniet ist, weckt später das Verlangen, den Fuß auf dessen Kopf zu setzen. Um mir diese Schande einmal zu ersparen, möchte ich auf Ihre Verehrung jetzt verzichten. Um nicht eines Tages eine noch viel bittere Einsamkeit ertragen zu müssen, will ich die augenblickliche geduldig auf mich nehmen.“
Der zweite Teil schildert den jungen Mann bei seiner Familie auf dem Land. Der Vater, der sich in seiner provinziellen und sich den Konventionen widerspruchslos fügenden Art von der des Sensei stark unterscheidet, ist schwer krank.
„Nach seiner Auffassung arbeiteten alle wirklich wertvollen Menschen in einer hohen Stellung, und er schien den Schluss zu ziehen, dass der Sensei nirgendwo tätig war, weil er zu nichts taugte.“
Als der Vater schließlich im Sterben liegt, verlässt ihn sein Sohn, weil der Sensei ihm in seinem Brief seinen bevorstehenden Freitod mitgeteilt hat.
Im dritten Teil, in ebendiesem Brief, schildert der Sensei – der im ersten Teil mit den Augen des Studenten betrachtet wurde und im zweiten, wenn auch unsichtbar, stets im Hintergrund zugegen war – dem jungen Mann seine Vergangenheit und gesteht nicht nur eine schwerwiegende Verfehlung seiner Jugend ein.
Die Vereinsamung des Menschen und sein streben nach innerem Frieden ist auch in diesem Roman Natsume Sosekis Thema. Letzteres scheint unerreichbar, weil in der allmählich einsetzenden Zeit der individuellen Entfaltung der Bruch mit den strengen Konventionen nur den familiären Ausschluss und somit die Einsamkeit des modernen Menschen zur Folge haben kann. Deutlich spürbar ist an vielen Stellen im Buch der enorme Druck, der Menschen psychisch zerstört und Suizid als einzige mögliche Lösung darstellt.
Da ich mich bislang nicht eingehend mit der japanischen Kultur beschäftigt habe, sind meine Kenntnisse eher gering und fußen auf einigen wenigen japanischen Büchern und Filmen. Dennoch wollte ich mich auf diesen Roman einlassen, um über eine andere Zeit und einen völlig anderen Kulturkreis zu lesen. Ich habe es nicht bereut – es war für mich ein besonderes Leseerlebnis. Die handelnden Personen blieben mir zwar fremd und ihr Verhalten war für mich nicht immer nachvollziehbar, aber diesen Anspruch hatte ich auch nicht. Vielmehr fühlte ich mich in der Rolle eines Beobachters, der sich in die Sitten und Gebräuche zwar nicht einfühlen, deren Problematik jedoch zu verstehen meinte.
Der Sprachstil dieses japanischen Klassikers ist leicht und flüssig zu lesen. In relativ kurzen Kapiteln wird man durch die drei Teile dieses Buches geführt. Viele japanische Eigennamen wurden beibehalten und mit Fußnoten versehen. Da ich das eBook gelesen habe, hätte ich mir gewünscht, dass mein eReader und/oder das eBook eine Möglichkeit zum bequemen hin- und herspringen zwischen Fußnote und Erläuterung bieten würde. Da dies jedoch fehlt, würde ich eher zum Buch in Papierform raten. Aber selbst wenn man nicht jeden Begriff nachschlagen möchte, mindert es nicht das Leseverständnis, sondern einzig das Vorstellungsvermögen wie ich aus Bequemlichkeit letztlich feststellen konnte.
„Kokoro“ ist zum einen ein Roman, der ein wenig in das traditionsreiche Japan mitnimmt, zum anderen aber auch den inneren Kampf des Menschen dagegen zugunsten seiner individuellen Bedürfnisse aufzeigt. Ein Buch, bei dem es den Protagonisten geholfen hätte, ein wenig mehr miteinander zu reden und das mich wertschätzen lässt, dass ich hier und heute in Deutschland lebe und nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan.